Klinefelter-Syndrom und Covid19 (SARS-CoV-2)

 

Bisher gibt es keine Daten über ein tatsächlich erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf mit der Diagnose Klinefelter-Syndrom. Aus nachvollziehbaren Gründen kann, das nur über Beobachtungen festgestellt werden und nicht über Studien, da dies ethisch verwerflich wäre.
 

Was wir wissen:
Covid19 erhöht die Wahrscheinlichkeit für tiefe Beinvenenthrombosen (DVT) und Lungenembolien deutlich. Bei stationär betreuten Patienten ist es 5-11%, bei Intensivpatienten 18-28%. Für diese Statistik wurden 66 (von 5951) Studien für eine Meta-Analyse betrachtet. Insgesamt lag das Risiko für venöse Thromboembolien (VTE) bei 14%. Eine weitere Meta-Analyse zog 42 (von 425) Studien heran, dort betrug die DVT-Rate 20%, die für Lungenembolien 13%. Die Sterblichkeitsrate war bei Patienten mit Thromboembolien 74% höher als bei denen ohne diese Komplikation.

Dass es sich bei Covid19 nicht nur um eine Lungenerkrankung handelt, sondern um eine systemische Gefäßentzündung, wissen wir schon seit April 2020 (Deutsches Ärzteblatt). Auch der Bericht von Prof Vogt ist sehr lehrreich.

Zudem gilt es Langzeitschäden einer überstandenen COVID-19-Infektion zu vermeiden. Erste Fallberichte und kleine Patienten-Serien zeigen, dass diese weitaus schwerwiegender sein können als nach einer Infektion mit dem SARS-Coronavirus, da sie aufgrund von Mikrothrombosen in den kleinen Lungenvenen zu einem teilweisen Funktionsausfall der Lunge mit Lungenhochdruck und nachfolgender Herzschwäche führen – eine chronische Erkrankung mit wenig therapeutischen Möglichkeiten und entsprechend hohen Folgekosten.

Das Auftreten von Mikrothrombosen bei Kindern selbst bei Auftreten von symptomfreien Verläufen deutet ebenso auf Gefäß- und Nierenschäden hin.

Was wir über das Klinefelter-Syndrom wissen:
Eine große Studie von Zöller et al. (2016) stellte bei 1085 untersuchten Klinefelter-Patienten ein deutlich erhöhtes Risiko für venöse Thromboembolien fest, wobei jüngere Patienten (unter 30) etwas stärker betroffen waren. Das Thromboserisiko war vergleichbar hoch wie bei erblich bedingter Thrombophilie (vgl. Colucci und Tsakiris 2020). Die geschätzte Häufigkeit in der Klinefelter-Population ist ähnlich zur Häufigkeit von Mangelerscheinungen von Antithrombin, Protein C und Protein S – Proteine, die hemmend auf die Blutgerinnung wirken. Das hat wichtige Auswirkungen auf die Prävention von Thrombosen bei Klinefelter-Patienten.

Die wichtigste Erkenntnis der Autoren war, dass das Thrombose-Risiko schon vor der Diagnose von Klinefelter erhöht war, was darauf hindeutet, dass die Testosteronbehandlung die Verbindung zwischen Klinefelter-Syndrom und VTE nicht erklären kann. Man vermutet daher einen Zusammenhang mit dem zusätzlichen X-Chromosom. Weitere Möglichkeiten sind Fettleibigkeit, metabolisches Syndrom, Diabetes und systemischer Lupus erythematodes (SLE), die bei Klinefelter auftreten können und das VTE-Risiko erhöhen könnten.

Eine neuere Studie von Chang et al. (2020) bestätigt das hohe Thrombose-Risiko. Auch hier ist die Zahl der untersuchten Klinefelter-Patienten mit 1155 relativ hoch. Das Risiko für VTE war höher als in der Kontrollgruppe, ebenso das Risiko nach einer Thrombose zu sterben. Nur knapp die Hälfte der Patienten erhielt eine Behandlung mit Testosteron – bei diesen war das Risiko für VTE und Tod insignifikant niedriger.
 

Zusammenhang Thrombophilie und COVID-19
Das CBT (Centrum für Blutgerinnungsstörungen und Transfusionsmedizin) spricht bei Thrombophilie nicht von einer Vorerkrankung, sondern einem Risikofaktor für das Entstehen einer Thrombose oder Lungenembolie. Ein schwerer Verlauf bei Covid19 sei nicht belegt, aber ein erhöhtes Thromboserisiko bestehe vor allem bei moderaten und schweren Verläufen von Covid19 (mit Krankenhausaufenthalt).

Das Saphenion, eine Praxis für Gefäßerkrankungen und Venenzentrum, spricht von vorbeugenden Maßnahmen beim Vorliegen u.a. einer Thrombophilie.

Die International Society on Thrombosis and Haemostasis (ISTH) gibt eine vorläufige Empfehlung:

Ambulante Patienten mit mildem Infektionsverlauf, die zum Beispiel zu Hause unter Quarantäne stehen, sollten angehalten werden, sich zu bewegen. Die pharmakologische Prophylaxe einer venösen Thromboembolie sei lediglich indiziert, wenn es sich um Hochrisikopatienten handele.

Unter Hochrisikopatienten versteht man solche mit einer aktiven Krebserkrankung oder eingeschränkten Mobilität, ebenso bei Lungenvorschädigung. Mit Stand Juni 2020 galt es nicht für alleinige Risikofaktoren wie Faktor V-Leiden, das nur als leicht erhöhtes Basisrisiko für Thrombosen galt.

Eine Studie von Jiang et al. (13.01.21) legt ebenso einen Zusammenhang zwischen Thrombophilie („hypercoagulability“) und schweren Covid19-Verläufen nahe, die Deutsche Gesellschaft für Neurologie spricht von Faktor-5-Aktivität als Biomarker für schwere Covid19-Verläufe.
 

Was bedeutet das für Menschen mit Klinefelter-Syndrom?
In meiner laienhaften Interpretation ist das Klinefelter-Syndrom unabhängig davon, ob man eine Hormonersatztherapie macht, aufgrund der erhöhten Gefahr von Thrombosen ein Risikofaktor für eine schwere Covid19-Erkrankung. Das individuelle Risiko wird zusätzlich davon abhängig sein, ob bei Klinefelter-Syndrom auftretende typische Vorerkrankungen wie Diabetes und Übergewicht vorliegen, da beides das Risiko für einen schweren Verlauf erhöht. Das sollte man mit seinem behandelnden Hausarzt, Endokrinologen oder Andrologen besprechen.

In einer Studie von Bojesen et al. (2006) wurde bei 832 KS-Patienten ein doppelt so hohes Risiko für Infektionskrankheiten festgestellt wie in der Durchschnittsbevölkerung. Wie sich das bei Covid19 auswirkt, wurde bisher nicht untersucht. Ebenso wenig gibt es aussagekräftige Beobachtungsstudien beim Covid19-Patientenaufkommen mit Klinefelter-Syndrom. Die Britische KSA (Klinefelter’ s Syndrome Assoziation) macht derzeit eine Umfrage zu Covid19 und KS/XXY.

Laut dem Andrologen und Klinefelter-Spezialisten Prof. Lusuardi von den Landeskliniken Salzburg (SALK) kann man sich aufgrund des Klinefelter-Syndroms ein Risikoattest geben lassen (persönliche Mitteilung), um für eine Impfung gegen COVID19 priorisiert zu werden. Zusätzliche Risikofaktoren sind hier zu berücksichtigen.

Aufgrund der jüngsten Ereignisse und entstandenen Unsicherheiten um die Sicherheit des AstraZeneca-Impfstoffs betont die oben erwähnte ISTH (und gestern auch die EMA), dass das Risiko von Thrombosen bei Covid19 jenes der extrem seltenen Sinusvenenthrombosen durch eine Impfung bei weitem überwiegt. 25 Fälle bei 10 Mio. Impfungen stehen in keinem Verhältnis zu 20-30% Komplikationen mit Thrombosen bei schweren Covid19-Verläufen. Ein erhöhtes Risiko für Thrombosen generell konnte in Zusammenhang mit Impfungen nicht nachgewiesen werden – sie gehen im Hintergrundrauschen (allgemeines Thromborisiko in der Gesamtbevölkerung) unter.


Was ich als 47, XXY-Träger tun würde:
Den eigenen Gesundheitsstatus checken lassen, Blutwerte, Blutzucker, usw., Gewicht normal? Wer übergewichtig ist, weiß das in der Regel schon länger. Mit den Befunden zum Hausarzt und ein Risiko- oder Hochrisikoattest ausstellen lassen. Impfung gegen COVID19 ist mit jedem zugelassenen Impfstoff ratsam.

Sonst gelten die üblichen Hygiene- und Schutzmaßnahmen bis zum Impftermin: Dicht sitzende Maske tragen und wechseln, sobald der Kopfgummi oder die Ohrenschlaufen ausleiern, sobald die Maske feucht wird, Abstand halten, Hände waschen. Kontakte möglichst ins Freie verlagern (indoor ohne Maske ist ein No-Go), sich nicht auf Schnelltestergebnisse allein verlassen, die fehlerbehaftet sein können.

Ich versteh naturgemäß nur Bahnhof, aber offenbar wurden bestimmte Gene, die Thromboseneigung erhöhen, gehäuft, manche sogar nur bei Klinefelter-Patienten gefunden. Das verstärkt die Vermutung, dass die Testosterontherapie nicht ursächlich für erhöhte Thrombose-Neigung ist, sondern das zusätzliche X-Chromosom bzw. die Gene darauf.

Wenn ich Forysth and Anguera (2021) richtig interpretiere, schützt das zweite X-Chromosom vor Autoimmunkrankheiten, die auch von Covid19 getriggert werden können.

Gemmati et al. (2020) klingt auch besser:

The presence of two X-chromosomes carrying genetic variants of X-linked inflammatory genes/receptors undergoing random inactivation may therefore represent an advantage in the acute phase of inflammatory diseases. Sawalha et al. (2020) kommt dagegen zum Schluss, dass Patienten mit SLE, dass bei KS häufiger auftritt, anfälliger für Infektion und schwere Verläufe bei Covid19 macht.